... wenn sie zu Boden fallen, merkt man erst, wie wertvoll sie sind.
Die Kugel fiel zu Boden, langsam genug, dass ich ihr dabei zusehen konnte. Ich war dabei, einen Christbaum abzuräumen, der mir nicht gehörte und den ich nicht aufgebaut hatte. Ich war dabei, eine Krippe leerzuräumen, deren Figuren mir nicht gehörten und die mir doch so vertraut war, als wäre es meine. Der den Christbaum und die Krippe am Heiligen Abend liebevoll aufgebaut hatte, konnte sie nicht mehr aufräumen. Er war am Tag zuvor verstorben. Und jetzt stand ich da, in der einen Hand einen Strohstern und in der anderen eben noch die Kugel, die nun Richtung Boden segelte. "Platsch". Was von ihr übrig blieb, waren hunderte kleinster Glassplitter. Langsam rieselten ein paar Tannennadeln darüber. Vor einer Woche noch hatte ich mich über Christbaumkugeln und Erinnerungen unterhalten. Christbaumkugeln seien wie Erinnerungen - so der Ausgangspunkt des Gesprächs - und wir alle hätten Angst, diese irgendwann zerbrechen zu sehen. Jetzt war sie mir also zerbrochen, diese Kugel. Ich war wieder fünf oder sechs Jahre alt, stand an eben jener Stelle und schaute auf die Scherben einer roten, matt glänzenden Kugel mit einem einzigen goldenen Schweifstern darauf. Ich hatte sie vom Baum nehmen und genauer anschauen wollen, doch sie war mir entglitten und zerbrochen. Und dem die Kugel, der Baum und die Krippe gehörte, war zum ersten und letzten Mal wütend auf mich. Nicht schlimm, aber ich hatte es nie vergessen und nie wieder einen Christbaum mit den Händen angesehen. Jetzt, beinahe ein Viertel Jahrhundert später, hatte ich wieder eine seiner Kugeln zerbrochen. Wieder eine rote mit goldenen Sternen. Ich stand da und sah hinunter auf die Scherben. Aber er kam nicht, um wütend zu sein. Er würde niemals wieder kommen und wütend sein, wenn ich eine Kugel zerbrach oder mit den Krippenfiguren "Auszug aus Ägypten" auf dem Wohnzimmertisch spielte. Irgendwann sah ich, dass die Kugel innen silberfarben gewesen war. Irgendwann bemerkte ich, dass zwar die Kugel, nicht aber die Erinnerung zerbrochen war. Christbaumkugeln mögen kaputt gehen, Erinnerungen können verblassen und eines Tages sogar ganz verschwinden. Was bleibt ist die Krippe. Und der Eine, der einmal meine Scherben, meine Erinnerungen und mich selbst vorsichtig und für immer in seine Hände nimmt und ansieht. Ich stand da, vor den Scherben der Christbaumkugel, war fünf Jahre alt und weinte.