So ein herrlicher Tag

In Bayern schneit es. Wurde mir zumindest von Freunden und Familie eindrücklich durch entsprechende Bildnachweise bewiesen. Bei mir vor dem Fenster beginnt gerade der Frühling. Ich höre die Vögel zwitschern, das Moos an der 400 Jahre alten Burgmauer strahlt in der Sonne. Gestern beim Spazierengehen entdeckte ich die ersten Gänseblümchen, Schneeglöckchen, Narzissen. "So ein herrlicher Tag... und ich soll gehen", sagte heute vor 75 Jahren Sophie Scholl zu ihrer Familie.

Beinahe täglich gehe ich vorbei an den Flugblättern vor dem Eingang der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Ich nutze diesen Punkt, um Treffen "bei den Flugblättern"  mit Freunden zu vereinbaren und ich will gar nicht wissen, wie oft ich schon ohne Verstand einfach drübergelaufen bin. Vermutlich bin ich nicht die einzige: Die in den Boden eingelassenen, marmornen Faksimile weisen schon Beschädigungen auf. Und doch: Noch immer liegen sie da - als hätte nur ein unachtsamer Hausmeister vergessen, sie wegzuräumen. Oft gehe ich durch den sog. Lichthof der Uni, von dem aus man einen wunderbaren Blick nach oben zu den Stockwerken und bis unter die Glaskuppel hat. Und das ein oder andere mal stand ich schon an der Stelle, an der Sophie und Hans Scholl die Flugblätter hinunter warfen. Ganz oben, zweiter Stock. Es ist eigentlich unvorstellbar, was damals passierte. Auch, wenn man an den Orten steht, an denen es passiert ist. Wie oft habe ich schon etwas getan, für das ich in Gefahr war, mein Leben zu verlieren? Ich lebe in einer Zeit, in der Krieg im Fernsehen passiert, im Internet, jeden Tag woanders, jeden Tag weit weg. Ich treffe Entscheidungen, die sich vielleicht auf die nächsten 50 oder 60 Jahre auswirken (ja, ich habe vor, alt zu werden). Aber wann habe ich schon eine Entscheidung getroffen, die implizierte, dass ich möglicherweise dadurch keine 50 oder 60 Jahre mehr zu leben habe?

„So ein herrlicher Tag, und ich soll gehen. Aber was liegt an unserem Leben, wenn wir es damit schaffen, Tausende von Menschen aufzurütteln und wachzurütteln.“ Einfach einknicken im Verhör, Verrat begehen, sich als jung und unschuldig und Mitläuferin darzustellen, wäre einfacher gewesen. Mit offenem Mund stehe ich immer wieder vor der Frage: Woher kam diese Kraft? Gott sei Dank lebe ich in einer noch weitgehend heilen Welt. Ich kann mich entscheiden, ob ich mich biologisch bewusst ernähre und verantwortungsbewusst einkaufe. Ich sitze bei strahlendem Sonnenschein auf der grünen Insel und habe wenig, was mich im Moment kümmert. Wenn ich will, kann ich morgen schon am anderen Ende der Welt sein. Doch was wäre, wenn ich von heute auf morgen vor demselben Satz stehen würde: "So ein herrlicher Tag..."

 

Hätte ich den Mut, zu gehen?