Vor der Zeit

Es ist interessant, sich einmal dabei zu beobachten, was man alles tut, wenn man mit den Gedanken nicht in der Gegenwart ist.  Einmal sah ich mir dabei zu, wie ich Zucker in meinen Zuckerstreuer füllen wollte. Mit einer Gabel.

Mein Kopf war in diesem Moment sicher nicht da, wo sich der Rest von mir befand. Wenn ich unkonzentriert bin, dann fange ich an Sätze von ihrem Ende her zu denken (das geht schneller). Das Problem ist nur: Ich spreche sie dann auch so und vergesse den Anfang. Heute morgen dachte ich über das Thema "Zeit" nach, als ich eine Duftlampe anzünden wollte und  dabei das Teelicht in die Wasserschale stellte und das Wasser in die Teelichthalterung goss. Sintflut auf der Fensterbank. Das eine tun und das andere denken, nicht ganz da zu sein, wo man gerade ist, das erinnert mich immer ein bisschen an "Momo", das Mädchen aus Michael Endes gleichnamiger Geschichte. Momo lebt in einer Welt, in der die Menschen immer weniger Zeit haben  und die sogenannten "grauen Herren" den Menschen die Zeit stehlen. Keiner hat mehr Zeit für Momo. So schrecklich, so wahr. Ich denke gerne drei Tage voraus, wahlweise auch zurück, planen und reflektieren ist ja schließlich wichtig. Sagt man. (Wer ist eigentlich dieser "man", von dem immer alle reden?) Doch seit ein paar Wochen vertrage ich das nur schwer. Klar, ich bin Theologin und die Adventszeit, in der ein bekannter Automobilhersteller schon seit der letzten Novemberwoche in großen Leuchtbuchstaben "Eine frohe Weihnachtszeit" wünscht, löst bei mir natürlich gewisse Reaktionen aus: Die Weihnachtszeit beginnt erst mit dem Heiligen Abend, der Dezember davor ist die Adventszeit, die bekanntlich dem Warten gewidmet ist und  Lebkuchen und Glühwein vor dem Christkönigssonntag sind unerträglich. Doch dieses "es ist noch zu früh" beschäftigt mich in diesem Jahr schon seit einiger Zeit. Meist waren es Gespräche, bei denen es um meine Zukunftspläne ging.

Eher unvermittelt fiel ich vergangene Woche über den Satz "Richtet nicht vor der Zeit", den Paulus an die Korinther schrieb. Spirituelle Ratgeber zu dem Auftrag "richtet nicht" füllen vermutlich ganze Bibliotheken. Ist auch schwer genug. Doch diesmal hörte ich hauptsächlich den zweiten Teil: "Vor der Zeit". Zu früh also. Es geht nicht nur darum, was ich tue. Es geht auch darum, wann ich es tue. Eine Duftlampe anzünden ist schön. Über die Zeit nachdenken auch. Beides gleichzeitig ist wohl nicht immer ganz so optimal. Es gibt für alles eine Zeit, wusste Kohelet. In der antiken und auch der christlichen Tradition nennt man diesen Zeitpunkt "kairos". Die Sängerin "Juli" schrieb dazu ein Lied mit dem Titel "Die perfekte Welle". Wenn es einfach so läuft, wie es laufen soll. Wenn ich ganz und gar im Moment bin und sonst nirgends. Schade, dass man diese Momente nicht machen kann. Sie kommen und gehen wie Wellen. Was ich machen kann ist  das: Die Sintflut auf der Fensterbank wegwischen. Das Wasser dorthin füllen, wohin es gehört. Die Kerze anzünden. Den Moment genießen. Da sein. Dann wird aus einem "vor der Zeit" ein "genau jetzt".